… Eindrücke eines Alpenflug-Novizen beim Sommerlehrgang des LVA in Südfrankreich
„Mach mal die Kamera aus.“ Ich stutze. Warum das? Die letzte Stunde habe ich damit verbracht, Maiks kleine GoPro begeistert von rechts nach links zu schwenken und wieder zurück, von oben nach untern und immer wieder durch das Seitenfensterchen, gebannt vom Alpenpanorama, während er uns vom hinteren Sitz aus an den Berggraten entlang gesteuert hat: vom Morgon, dessen Hochplateau die Miniatur-Landschaftsbauer von Märklin nicht pittoresker hätten gestalten können, über den türkis-blau funkelnden Lac de Serre Ponçon, der Dormillouse und Les Trois Evêchés nach Süden, fast auf Augenhöhe vorbei an winkenden Bergwanderern. Immer wieder habe ich mich gezwungen, die Kamera aus der Hand zu legen, nur um gleich darauf wieder auf den Auslöser zu drücken, jedes mal, wenn wir um eine Ecke herum gekommen sind, und sich ein neuer, faszinierender Anblick ergab.
Vor vier Stunden sind wir in Puimoisson gestartet, an einem typischen französischen Alpen-Sommertag: Südwest-Wind, ein Gemisch aus Wolkenthermik und Hangaufwind, das ganze im Nachmittag bis auf 3700 Meter. Auch Welle hat man uns morgens beim Briefing versprochen. Die gibt es auch. Weit im Norden sehen wir die Lentis, zu weit für uns heute. Bei Barcelonette steht ebenfalls eine Rotorwolke, doch wie die anderen aus unserer Gruppe, finden wir keinen Einstieg ins System. Ist für uns heute aber auch keine Priorität.
Maik Kühlenborg hat sich bereit erklärt, vom Copilotensitz aus mir Alpenflug-Novizen den berühmten Parcours zu zeigen. Mit ein paar Vereinskameraden vom FSG Soest macht er in Puimoisson Urlaub, hat einige hundert Stunden Flugerfahrung, und ich mit meinen vielleicht 20 Stunden quasi nichts. Die Tage zuvor bin ich nach einigen Einweisungsflügen am Doppelsteuer mit der Vereins-LS-1 im 20-Kilometer-Radius um Puimoisson gedümpelt, und habe meine Hangflugerfahrung am Serre de Montdenier aufgefrischt, dem 1000 Meter aus der Haute Provence aufragenden Hausberg, wenige Kilometer östlich des Platzes. Für Flachlandtiroler wie mich bietet Puimoisson beste Voraussetzungen für den Einstieg in den Gebirgssegelflug. Südwestlich des Platzes breiten sich beruhigend große ebene Flächen aus, während man sich Richtung Norden langsam an die Hänge und Berge herantasten kann, ohne dass die Zahl möglicher Außenlandeflächen rapide abnimmt, und einem beängstigend viele der ortsüblichen Alpengipfel entgegen springen. Auch wegen dieser günstigen Lage hat der Luftsportverein Aachen zum vierten Mal sein Sommerlager hier aufgeschlagen. Motto: Wer will, der kann, muss aber nicht. So werden in den diesmal drei Lehrgangs-Wochen auf den fünf Vereins- und sechs Privatflugzeugen bei 125 Starts insgesamt 365 Flugstunden zusammen kommen und knapp 14.000 Streckenkilometer.
Weil die sich aber nur schwer erfliegen lassen, indem man die paar Kilometer Hang der Serre poliert, soll es heute also endlich einmal über den Parcours gehen, jene grob von Nord nach Süd laufende Aufreihung von Gipfeln, die der Alpenflieger gern und intensiv als Rennstrecke nutzt.
Der Verkehr ist in der Tat beträchtlich: Kaum eine Flugminute verstreicht, in der nicht in Gegenrichtung ein, zwei, oder gleich eine ganze Horde Plastik-Piloten die Grate entlang fräst. Trotz FLARM heißt es da, Augen auf, und die Vorflugregeln beherzigen. Denn abgesehen von einigen zornigen und wenig ausweich-willigen Kameraden, gibt es ja auch noch die Kollegen Hängegleiter und Gleitschirmflieger, mit deutlich niedrigerer Relativgeschwindigkeit aber ebenso berechtigtem Interesse am Hangaufwind.
So arbeiten wir uns die grob 80 Kilometer von der Serre über Beynes und Coupe, Cheval Blanc, Les Trois Evêchés und die Dormillouse bis hinauf zum Lac de Serre Poncon und wieder zurück. Dabei immer den Blick auf mögliche Außenlandefelder, teils in ausgetrockneten Flussbetten, von denen einige trotz Karte und Außenlandekatalog nur schwer zu erkennen sind. Die Ausweichmöglichkeiten zu kennen, so lerne ich, ist extrem zuträglich für die eigene Gesundheit wie das Fluggerät – der Plan-B mithin in jeder Situation und zu jedem Zeitpunkt essenziell. Denn in den Alpen geht alles ein bisschen schneller. Die Zeit, die für Entscheidungen bleibt, ist deutlich kürzer bemessen als im Flachland.
Deutlich besser sichtbar als so manches Außenlandefeld ist ein ringförmiges Gebäude auf dem Gipfel des Cheval Blanc. Auf meine Frage, was das wohl sein könne, antwortet Maik in aller Selbstverständlichkeit: „Ach das! Das ist das Elefantenklo.“ Zu meiner eigenen Überraschung kann ich mit dem Namen etwas anfangen: Beim Debriefing, der morgendlichen Nachbesprechung der Flüge vom Vortag, ist regelmäßig vom Elefantenklo die Rede. Der Rundbau soll ein Amateur-Observatorium beherbergen, wie man hört. Es braucht schon einige Vorstellungskraft, um daraus eine Kloschüssel für Dickhäuter zu fantasieren. Aber an Vorstellungskraft mangelt es dem Segelflieger bekanntlich nicht. Und so wimmelt es auf den inoffiziellen Gipfelkarten, die unter den Piloten kursieren, vor kreativen Namensgebungen: von phonetischen Verballhornungen aus dem Französischen und schiefen Übersetzungen (so werden aus drei Bistümern – Les Trois Evêchés – drei Bischöfe), bis zu Spitznamen, die aus der Topologie der Berge entstehen (wie der Krückstock und Hinkelsteine nahe St. Auban), oder eben der Bebauung (Monte Electric heißt der Colombis wegen des Mastes auf seiner kegeligen Kuppel und der vielen Stromleistungen).
Inzwischen sind wir schon zum zweiten Mal auf dem Rückweg Richtung Puimoisson, aber das Elefantenklo bekommen wir diesmal nicht zu sehen, denn wir nehmen die Route etwas weiter westlich am Bleyeul vorbei. Nun wird mir auch klar, warum Maik mich drängt, die Kamera auszuschalten: Wir fliegen über die Absturzstelle des Germanwings-Unglücks. Bis auf eine neu angelegte Gebirgsstraße weist nichts mehr auf die Katastrophe hin, die sich vor einem halben Jahr hier abgespielt hat. Dennoch – ein seltsames Gefühl bleibt.
Also zurück zum Platz. Puimoisson liegt auf einer Hochebene am Fuß des Serre de Montdeni, und ist für Neulinge recht gewöhnungsbedürftig. Weil die Hauptwindrichtung West ist, wird stets auf der abschüssigen 26 gestartet. Bei der Landung hat der geneigte Pilot die Wahl zwischen zwei Übeln: Entweder gegen den Wind, aber auf einer reichlich abschüssigen Bahn. Oder mit Gegenwind, dann aber bergauf – was auch nicht immer spaßig ist, vor allem wenn zum Westwind eine kräftige Nord- oder Südkomponente hinzu kommt.
Während ich mich geistig-moralisch schon mal auf die Landung vorbereite, entdeckt Maik noch einen hübschen Cumulus über dem Gorge du Verdon, jenem mächtigen Canyon, der in den pittoresken Lac de Sainte Croix mündet. Es ist schön spät am Tag. Erstaunlicher Weise sind die Bärte zum Abend hin immer kräftiger geworden, zugleich aber ruhiger und runder. Ein offenbar häufiges Phänomen in den Alpen. Wir kreisen ein: 2,7 Meter integriertes Steigen vermeldet das Vario. „Ein Blick auf die Uhr: 19:10!“ , grinst Maik. „Willkommen in Frankreich!“
Martin Herzog
Zum Autoren: Martin Herzog fliegt seit fast 30 Jahren in Aachen und hatte bislang nur wenig Gelegenheit, jenseits von Eifel und Bergischem Land echte Gebirgsflugerfahrung zu sammeln. Nach dem Sommer-Lehrgang weiß er aber, dass dies mit Sicherheit nicht sein letzter Segelflugurlaub in den Alpen war.